Der Physiker Prof. Egbert Kankeleit hat in den späten 1980er Jahren in der TU Darmstadt eine der Gruppen von FONAS mit gegründet und über Jahrzehnte gefördert, die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS). Jetzt ist er im Alter von 94 Jahren gestorben. Im Physik Journal, der Mitgliederzeitschrift der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, erscheint folgender
Nachruf von Mitgliedern der damaligen IANUS-Gruppe.
Egbert Kankeleit wurde am 16. April 1929 in Hamburg geboren. Er studierte in München Physik, wo er im Jahre 1961 in der Gruppe von Heinz Maier-Leibnitz promovierte. Danach ging er zum CalTech nach Pasadena (USA), von wo aus er im Jahre 1966 einem Ruf an die TH Darmstadt (heute TU) folgte. Er blieb unserer Universität dann bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997 treu.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit war Egbert Kankeleit einer
der großen Pioniere der Mößbauerspektroskopie; er gilt insbesondere als der Begründer der Konversionselektronen-Mößbauerspektroskopie, die er zunächst zur Bestimmung von Kernmomenten und später – auch schichtenselektiv – zunehmend auch in der Materialwissenschaft einsetzte. In den 1970er und 1980er Jahren kamen weitere Forschungsgebiete hinzu, u. a. das Studium myonischer Atome am CERN, Studien zur Paritätsverletzung beim Gammazerfall und zur Positronenforschung bei der GSI, bei deren Aufbau er maßgeblich mitwirkte. Die von ihm immer wieder forcierte Methodenoptimierung führte schließlich zu einem „miniaturisierten Mößbauer-Spektrometer“ (MIMOS II), das im Jahre 2003 im Rahmen der NASA-Doppelmission mit den Rovern Spirit und Opportunity an Bord auf dem Mars landete und Daten zur chemischen Beschaffenheit der Marsoberfläche lieferte.
In der Lehre legte er stets Wert auf die Anwendung modernster Methoden gelegt, um die Ausbildung seiner Studenten so aktuell wie möglich zu gestalten. Er war einer der ersten Professoren, der den Einsatz von Computern in der Vorlesung betrieb, was heute fast schon selbstverständlich geworden ist. Über seine Lehrveranstaltungen und Vorträge gelang es Kankeleit immer wieder, exzellente Studierende, Doktoranden und Mitarbeiter für seine Themen zu begeistern. Stellvertretend seien zwei inzwischen verstorbene Forscher aus seinem Schülerkreis genannt: Der durch seine Arbeiten zur Erzeugung schwerer Elemente bei der GSI bekannte Sigurd Hofmann (1944-2022) und der später beim Marsprojekt leitend tätige Göstar Klingelhöver (1956-2019).
Egbert Kankeleit war immer ein ausgesprochen kritischer Wissenschaftler, der Forschungsentwicklungen und Resultate stets streng hinterfragte. So hinterfragte er beispielsweise einmal bei einer höchst intensiv geführten Debatte die Signifikanz von vermeintlichen, auf gewisse exotische Teilchen hindeutende Positronenpeaks.
In den 1980er Jahren nutzte er seine kernphysikalische Expertise, um in einer national und international Aufsehen erregenden Studie nachzuweisen, dass Plutonium aus zivilen Kernkraftwerken in Atomwaffen verwendet werden könnte. Was heute allgemein als Stand der Wissenschaft anerkannt ist, stand damals in diametralem Widerspruch zu öffentlich vorgetragenen Behauptungen aus der Industrie, wonach aus abgebranntem Leistungsreaktor-Brennstoff durch Wiederaufarbeitung abgetrenntes Plutonium völlig ungeeignet für potenzielle Waffenanwendungen sei.
So sah sich Kankeleit zunehmend auch als Akteur der Concerned Scientists, die ihre persönliche und gesellschaftliche Verantwortung als Wissenschaftler nach der Erfahrung mit der Atomwaffenforschung und Hiroshima durch öffentliche, stets wissenschaftsbasierte Aufklärung wahrnehmen wollten. Er engagierte sich folgerichtig in der internationalen Pugwash-Bewegung (Friedens-Nobelpreis 1995) und im Vorstand sowie in thematischen Arbeitsgruppen der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), ebenso an der Darmstädter Friedensinitiative, in der Studierende und Lehrende der TU Darmstadt auf Augenhöhe zusammenarbeiteten. Ihm wurde immer klarer, dass die Forderung nach Verantwortbarkeit unseres wissenschaftlichen Tuns heute weit über das fachspezifische Korrektheitsethos hinausgehen müsse. Vor dem Hintergrund der riesigen lebensweltlichen Problemlagen müssten die fachübergreifende Zusammenarbeit gefördert und die gemeinsame Suche nach verantwortlichen Zukunftspfaden etabliert werden.
Ende der 1980er Jahre wagte er einen an deutschen Universitäten außergewöhnlichen Schritt: Stipendiaten der VW-Stiftung, die nach Erlangung ihrer Physikpromotionen zu naturwissenschaftlich-technischen Fragen der Rüstungskontrolle arbeiteten, gab er durch Aufnahme an sein Institut eine universitäre Heimstätte. Aus dieser Keimzelle, dem Engagement von weiteren Lehrenden innerhalb der Friedensinitiative und der An-Stiftung durch die VW-Stiftung entwickelte sich die „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit“ (IANUS). Kankeleits „schützende Hand“ und sein wissenschaftliches Renommee ermöglichten die offizielle Etablierung als wissenschaftliche Einrichtung der TUD. Gegen erheblichen Widerstand setzte er sich in den Folgejahren für die Anerkennung von interdisziplinär angelegten Promotionen mit physikalischem Kern ein. Hier ging es vor allem um Fragen der Ambivalenz nuklearer Technologien und Materialien.
IANUS, bei der bis zu acht verschiedene Fachrichtungen zusammenwirkten, wurde zum Anziehungspunkt für junge engagierte Wissenschaftler. Viele arbeiten heute national und international in angesehenen Positionen, an Hochschulen, außeruniversitären Forschungsrichtungen sowie im Bereich der Politikberatung. Zusammen mit anderen Arbeitsgruppen wurde dann 1997 der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) gegründet. IANUS erhielt im Jahr 2000 den Göttinger Friedenspreis und wurde so ein letzter Höhepunkt in Kankeleits akademischer Karriere.
Vielleicht darf man diesen Nachruf mit Worten beenden, die einer seiner Kollegen anlässlich seines 90. Geburtstages in einer ihm zugedachten Widmung schrieb: „Wenn ich an Dich denke, dann immer auch: Aufrechter Gang! Das war immer imposant bei Dir. Nicht nur als Körperbild, sondern eben auch in vielen Fragen, die uns alle betreffen: Frieden, Mitbestimmung und echte Demokratie, Wahrhaftigkeit – gerade auch innerhalb der Wissenschaft -, Verantwortung, Freiheit der Meinung, Widerspruch gegen angemaßte hohle Autorität.“
Egbert Kankeleit starb am 23. Dezember 2022 im Kreis seiner Familie. Er erreichte ein gesegnetes Alter von fast 94 Jahren. Sein Wirken wird uns weiter anspornen, um so mancher Fehlentwicklung, die heute unter dem Emblem wertfreier Forschung getrieben wird, kompetent und mutig entgegenzutreten.
Für das ehemalige IANUS: F. Friess, F. Fujara, M. Englert, A. Glaser, M. Kalinowski, M. Kütt, W. Liebert, K. Nixdorff, C. Pistner, J. Scheffran